Mit Worten fotografieren
Die von der metroZones-Schule eingeladene Schriftstellerin Annett Gröschner zeigte ihre Methode des Stadt(auf)schreibens. An einem Augusttag im Jahr 2015 entstand dabei das folgende Experiment:
Snapshots sind eine literarische Methode, die 1968 von dem Schweizer Schriftsteller Peter Wehrli (Jg. 1939) erfunden wurde. Auf einer Reise mit dem Orient-Express von Zürich nach Beirut, die damals fast eine ganze Woche dauerte, stellte Wehrli fest, dass er seine Kamera, mit der er Beobachtungen schnappschussartig aufzunehmen pflegte, zu Hause liegengelassen hatte. Er ärgerte sich und fing an, die Bilder, die er sah, aufzuschreiben anstatt zu fotografieren. Damit erfand Wehrli die literarische Kurzform der Snapshots, die er erstmals 1999 in seinem Buch mit dem Titel »Katalog von allem« veröffentlichte und seitdem als work in progress weiterführt. Wehrli entwirft mit wenigen Strichen einen Bildausschnitt. Ein Bildmoment seiner jeweiligen Umgebung wird auf Papier, nicht »auf Zelluloid gebannt«, wie es in Zeiten der analogen Fotografie noch hieß. Die skizzenhaften Striche zielen dabei nur auf Einzelphänomene, die niemals lange beschrieben, sondern nur festgehalten werden, als mache man einen Schnappschuss mit dem Fotoapparat im Vorübergehen.
Wehrlis Methode eignet sich besonders für das Notieren während des Unterwegsseins, entweder diskret mit der Notierfunktion des Smartphones/ Pads oder klassisch mit Hilfe des Notizbuchs. Jedes einzelne Bild sollte auf ein bestimmtes Detail fokussieren, das ins Auge fällt. Wichtig ist, dass die sprachlichen Bilder von knapper, fast lapidarer Skizzenhaftigkeit sind und jeweils für sich einen einzelnen kleinen Moment während des Unterwegsseins fixieren. Bei den Sätzen handelt es sich um Relativsätze (»Der Mann, der …«). Die Hauptsätze kommen ohne Prädikat aus und wirken so wie eine bloße Andeutung, ein Vorgang, der wie im Vorübergehen kurz und unvollständig fixiert wird. Durch das fehlende Prädikat werden die Notizen eindrücklicher auf das Subjekt des Geschehens fokussiert. Die bewusst gestaltete Knappheit führt zur Gestaltung markanter Bilder.
In der durchnummerierten Folge einer durch Aussteigen unterbrochenen Straßenbahnfahrt mit der Linie M5 scheinen die Bilder – ähnlich wie Fotografien oder Filmbilder – kurz auf, lösen einen visuellen Eindruck aus und verschwinden gleich wieder. Denn so verläuft das Reisen: als Folge kurzer Snapshots, die zunächst vereinzelt für sich stehen und noch keine Erzählung bilden. Die Erzählung ergibt sich aus der Zusammenschau aller einzelnen visuellen Eindrücke, die als Ganzes gesehen eine Fahrt mit der Linie M5 durch Berlin ergeben, wobei an jeder Haltestelle ausgestiegen wird.
Mit 38 Haltestellen und einer Fahrzeit von 57 Minuten ist die M5 eine der längsten Strecken Berlins, die zudem noch die Innenstadt um den Alexanderplatz mit einer der größten Ostberliner Trabantensiedlungen, Hohenschönhausen, verbindet. Die Reise ist alles andere als homogen, es gibt sehr unterschiedliche Fahrgäste, Architekturen und Gegenden, die visuellen Eindrücke wechseln häufig. Seit diesem Jahr ist die M5 nach mehrjähriger Bauzeit endlich zum Hauptbahnhof und weiter bis nach Moabit verlängert worden. Es ist erst die zweite Verlängerung auf das ehemalige West-Berliner Gebiet in 25 Jahren. 1967 war in West-Berlin die Straßenbahn abgeschafft worden.
Bei unserem Ausflug war die Benutzung von Kameras, welcher Art auch immer, nicht erwünscht. Die Teilnehmer*innen des Workshops losten im Vorfeld eine der Haltestellen auf der Strecke aus. Die Gruppe fuhr gemeinsam bis zur Endhaltestelle (an diesem Tag zweimal durch Schienenersatzverkehr unterbrochen) und von dort aus wieder zurück, wobei die Teilnehmer*innen an der jeweils gelosten Haltestelle aussteigen und die Gegend um die Station fotografisch schreibend erkunden sollten. Danach traf sich die Gruppe wieder in Moabit und diskutierte die Ergebnisse. Gemeinsam wurden das beste Snapshot der jeweiligen Station ermittelt und die einzelnen Bilder zu einem Gesamttext komponiert.
SNAPSHOTS-STRECKE: MIT DER M5 VOM HAUPTBAHNHOF NACH HOHENSCHÖNHAUSEN
ZINGSTER STRASSE
Der Althippie mit schlohweißem langen Haar und Bart, der am schattigen Ufer des Melzower Sees steht, mit seinem auf die Badenden am anderen Ufer gerichteten Fernglas. (Daniela)
AHRENSHOOPER STRASSE
Eine Frau mit Hund, die zu dem Mann mit Hund sagt: »… bevor ihm das Hirn austrocknet. Komm Lucky, ab in den Schatten!« (Daniela)
PREROWER PLATZ
Die Frau, die ganz in Schwarz gekleidet, mit schwarzem Hut, neben dem roten Kaugummiautomaten auf ihren Freund wartet, der, die Bierplauze unter dem weißen TankTop nicht verbergend, rauchend einen Einkaufstrolley hinter sich herzieht. (Tilla)
ANNA-EBERMANN-STRASSE
Der kleine Junge, der neben seinem großen Bruder stehend, völlig ungeniert, aus einem Meter Entfernung an einen Elektrokasten neben der Tramhaltestelle pinkelt. (Tilla)
GEHRENSEESTRASSE
Der Blick, die Paul-König-Straße entlang, der an bunten Häuschen vorbei, gelb, orange, rosa, auf elf Stockwerke Plattenbau fällt, silber und grau. (Ylva)
HAUPTSTRASSE RHINSTRASSE
Die Rolltreppe im Einkaufszentrum Storchenhof, die einen mitnimmt auf eine Bilder- Zeitreise, von der ersten Erwähnung des Dorfes Hohenschönhausen im Jahre 1354 bis zum Aldi. (Ylva)
OBERSEESTRASSE
Das indisch-singapurische Restaurant mit dem vanillegelb gestrichenen Waschbetonmäuerchen, dessen Eingang innen von einem riesigen goldenen Buddha verstellt ist, und davor der Sohn mit dem »Feel the Freedom«- T-Shirt, der seine Mutter fragt: »Willste Ente essen oder Hühnchen oder Scampi jibts och.« (Jelka)
FREIENWALDERSTRASSE
Die herausgerissene Zeitschriftenseite, die unter meiner Zimtlatsche hängen bleibt, so dass ich »Beim Bowling ließ ich mich spontan verfü̈hren« lese und bunte Glanzbilder von Sex in der Bowlingbahn den grauen Asphalt kontrastieren. (Jelka)
WERNEUCHENER STRASSE
Die Gedenktafel für »Artur Becker – Vorsitzender des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands, der in Hohenschönhausen wohnte (…) und im Zuchthaus Burgos in Spanien von den Faschisten ermordet wurde«, die auf einer von der Hitze versengten Grünanlage steht, auf der rote zerknüllte Servietten herumliegen. (Jelka)
SIMON-BOLIVAR-STRASSE
Ein Pappbodybuilder, dessen Gesicht hinter der Hantel verschwindet, und daneben, steif und starr wie ein Zinnsoldat, die Silhouette eines Mannes, dessen kugelrunder Bauch aus der Tür ragt. (Francisca)
SANDINOSTRASSE
Die Langeweile, die nicht enden mag, die Leere, die sich nicht verdrängen lässt, Sandinostraße, die keinen Platz für Trubel hat, ein bisschen Aufregung, die kurz vorbeihuscht, als ein kleiner strubbeliger Hund mit rosaroter Hechelzunge um die Ecke tippelt und mich anglotzt. (Francisca)
HOHENSCHÖNHAUSENER STRASSE WEISSENSEER WEG
Der Pfeil unter dem FlashGraffiti, der in eine Richtung zeigt, die es hier nicht mehr gibt. (Karsten)
ODERBRUCHSTRASSE
Der Mann vorm Café Attenzione, die Sonnenbrille getönt, das Hemd gespannt, die Uhr schwer golden, der seinem Herrengedeck auf der Ratan-Couch entgegensackt. (Christoph)
S LANDSBERGER ALLEE
Der Schlachthof, ein Backsteinkomplex, dem die jungen Birken aus den Fugen und Dachrinnen wachsen. (Christoph)
LANDSBERGER ALLEE/PETERSBURGER STRASSE
Die Frau, die an der Kasse fragt »Wo sind denn die wässrigen Tomaten«, die vom letzten Mal seien zu geschmacksintensiv gewesen. (Laura)
KLINIKUM IM FRIEDRICHSHAIN
Die rauchende Frau, die mit heftig gestikulierenden Bewegungen auf einen Mann einredet, der ü̈ber der Einstichkanüle für einen Tropf eine Tätowierung mit der Aufschrift »Pommern« in Fraktur auf dem Unteram trägt. (Annett)
PLATZ DER VEREINTEN NATIONEN Das durchtrainierte, zierliche Bikini-Mädchen, das in Moonboots und mit Wasserflaschen in beiden Händen über die Wege trabt. (Adelheid)
MOLLSTRASSE
Drei rosa, gelb und mintgrün gestrichene Wohnblöcke, deren Balkone mit bunten Sonnenschirmen und roten Geranien sich gegen den blauen Himmel abheben. (Adelheid)
U ALEXANDERPLATZ
Der altrosa Nippel der Plastinatfigur, die in der Vitrine vor dem »Menschen Museum« als »Yoga Frau« hochgewölbt drapiert ist und die von einer eleganten Dunkelhaarigen mit Silbersandalen fotografiert wird. (Anne)
S+U ALEXANDERPLATZ/GONTARDSTRASSE
Der Apparat, der im Vorbeigehen zu den Passanten spricht, »besondere Postkarten« anpreist, der »Bitte berü̈hren Sie den Bildschirm « sagt und mir befiehlt »Haben Sie Spaß« und der aber von keinem der Vorbeigehenden eines Blickes gewürdigt wird. (Anne)
SPANDAUER STRASSE/MARIENKIRCHE
Die sächsische Reisegruppe, die ein Gruppenfoto von dem Neptunbrunnen machen möchte, weil man das frü̈her auch schon so gemacht hat. (Ellen)
S HACKESCHER MARKT
Der Mann mit dem Stadtplan, der verloren durch die Gegend blickt, und der nicht fragt, wo er ist und wohin er gehen könnte. (Ellen)
MONBIJOU-PLATZ
Das kleine Mädchen im Freibad, das Anlauf nimmt und auf das Becken zurennt, um kurz vor dem Beckenrand zu stoppen und in das Wasser zu steigen. (Frieder)
ORANIENBURGER TOR
Das Aufstellschild eines Restaurants, das Lust auf einen »Cocktail to go« machen soll . (Frieder)
NATURKUNDEMUSEUM
Die Tupperware-Vertreterin Angelika Schulz mit dem Schmetterlingsrollkoffer, die an dem Gebäude vorbeieilt, in dem die Koffer mit der Schmetterlingssammlung Alexander von Humboldts auf Öffnung warten. (Karsten)
INVALIDENPARK
Das Rauschen des Wassers, das ständig hinabfließt von der obersten, auf einem Gittersteg zwischen Betonmauern zu erreichenden Stelle des Denkmals, das symbolisch im großen rechteckigen gingkoumstandenen Wasserbecken versinkt. (Susanne)
S + U HAUPTBAHNHOF
Neue Straßenhaltstelle, deren graue Flü̈geldächer wie Schwingen abzuheben scheinen, vor dem gerade eröffneten Amaro Central und IBIS-Hotel mit der Bar »Hans im Glück«, für die ein gelbes Ampelmännchen mit hinterherwackelnder Gans wirbt. (Susanne)