metroZones
SCHULE FÜR STÄDTISCHES HANDELN

Maren Grimm

Sichtbarkeit? Mediale Erzählungen von Refugee-Bewegungen

Wie haben sich im Zeitalter des Smartphones, also der ständig verfügbaren HD-Kamera, die Autor*innen der Erzählungen von Flucht und Ankommen und damit auch die Erzählungen selbst verändert? Die Filmemacherin Maren Grimm hat Videos und Filme zusammengestellt und kommentiert, die beispielhaft für diesen Aushandlungsprozess um Sichtbarwerdung von Refugees stehen. Zwei davon sind hier vorgestellt.

Wie verändern sich journalistische und filmische Plots durch die Ereignisse und durch andere Autorenschaften? Was bedeutet es, dass eine mediale journalistische Vermittlung dadurch – zumindest zum Teil – entfällt? Welche Rolle spielen die Geräte selber, die Kameras, die Kommunikation über soziale Medien und die damit verbundenen Möglichkeiten der unmittelbaren Übertragung? Und was heißt es, dass wir vermehrt auf diese Bilder zugreifen können und sich der Zugang zu Information damit verändert? Was heißt es, dass diese Bilder – und auch viele der Menschen, die diese Bilder auf ihren Wegen nach Europa gemacht haben – jetzt hier sind?

Bei der Sichtung des Materials wird deutlich, dass es um die Visualisierung einer permanenten Krise geht. Es gibt darin zwar immer auch Momente der Ermächtigung, einer aktivistischen Aneignung und eine Verschiebung von Handlungsfähigkeiten durch die direkte, unvermittelte Übertragung von Ereignissen durch die Akteure selbst. Zugleich sind diese Bilder eingebettet in eine Debatte darum, wer überhaupt eine Stimme hat und sichtbar und hörbar wird. Welche Bilder werden wie und warum hegemonial und wie werden »unsere« ästhetischen und letztlich auch ethischen Vorstellungen mittels bestimmter Stereotype hergestellt?

Graphic Recording: Britta Kussin

Bilder von Krieg, Flucht und Ankommen sind immer auch Teil eines Kampfes darum, wie die Subjekte dieser Bilder von Opfern zu handlungsfähigen Menschen werden. Das heißt in erster Linie, dass »wir« (als Vertreter*innen einer Mehrheitsgesellschaft in Europa) uns von Vorstellungen und Sehgewohnheiten befreien müssen und unsere Perspektive sich möglicherweise verschiebt. Nicht nur im Sinne des Erkennens der »Anderen« und der Überwindung des »Othering«, sondern auch im Sinne der Anerkennung der eigenen Involviertheit.

Ende 2015 erschien »My Escape/Meine Flucht« von Elke Sasse, produziert vom WDR. Der Film besteht aus einer Montage von Handyvideos, die von Geflüchteten aus Afghanistan, Eritrea, Syrien und dem Irak auf ihren verschiedenen Fluchtrouten gefilmt wurden und die von ihnen selbst im Nachhinein kommentiert werden. Die Produzenten hatten in den sozialen Netzwerken einen Aufruf zur Teilnahme an dem Filmprojekt gestartet und aus den Einsendungen die späteren Protagonist*innen ausgewählt. In ihren Erzählungen vermischen sich Erläuterungen zu den Bildern mit Erinnerungen an die »Reise« und Reflexionen über die Gegenwart.

Aus ihren Erzählungen und den auf der Flucht gedrehten Videos wird deutlich, dass die Dokumentation der Fluchtroute mehrere Funktionen hat. Ein Zeugnis anzufertigen über den Weg, der vor einem liegt, spielt dabei sicher eine zentrale Rolle. Aber die Aufzeichnungen könnten – im Falle des Todes auf der Flucht – auch zum letzten Zeugnis oder auch eine Warnung für die Familien, Freunde und diejenigen werden, die den Weg noch vor sich haben. Hier werden sie zu Zeugnissen des Überlebens.

Graphic Recording: Britta Kussin
Graphic Recording: Britta Kussin

Wir sehen in »My Escape« Bilder von tagelangen Fußmärschen durch die Wüste, von Transporten in überladenen offenen LKWs, aus informellen Reiseagenturen an der türkischen Adriaküste, vom letzten Falafel vor der Überfahrt und immer wieder vom Warten, vom Überschlagen der verbliebenen Barschaft, von Ungewissheiten, gerade im Zusammenspiel mit den nachträglich geführten Interviews. Oft ist das Material heimlich gedreht, etwa bei den Bilder aus den »Reisebüros«, den unablässig ratternden Geldzählmaschinen, den Schlangen von Reisewilligen mit gezückten Geldbündeln. Dazu erzählt einer der Protagonisten, dass hier oftmals Millionen Euro pro Tag umgesetzt werden. Nach dem Kauf der »Fahrkarte« begeben sich die »Reisenden« zu Sammelplätzen, wo sich die Flüchtenden mit ihren Habseligkeiten versammeln. Mit Schwimmwesten und Deckenstapeln warten sie an den informellen Transitstationen. Danach werden sie in einer stundenlangen Fahrt in einem geschlossenen Transporter zum Abfahrtsort der Boote gebracht. Dieses authentische Material ist stark, gerade wenn die Protagonist*innen in den dazwischengeschnittenen Interviews ihre eigenen Bilder kommentieren. Der Film wird in der Gesamtschau zu einem Stück kollektiven investigativen Journalismus. Er zeichnet ein Bild von den Abläufen entlang der Fluchtrouten, welches die Anhäufung von Unterlassungen der Staatengemeinschaft noch einmal skandalöser erscheinen lässt, und führt die medialen Vereinfachungen, wie zum Beispiel in den Diskursen über die »kriminellen Schlepperbanden«, ad absurdum.

Der französische Film »This is a Real Story – No. 9« untermauert seinen Anspruch, »authentisch« zu sein, nicht nur bereits im Titel, sondern auch mit allem, was die Dokumentarfilmkonvention zu bieten hat. Wir sind in Marokko, zeigt uns der Film zunächst mit einem Blick in die kultivierte, blühende Agrarlandschaft. Er handelt von den Gruppen von jungen Subsahara-Afrikanern, die zum Teil monate- oder auch jahrelang in notdürftigsten Camps oberhalb der spanischen Enklave Melilla leben und als prekäre Tagelöhner versuchen, Geld für die Überfahrt zusammenzukriegen, oder auf eine Gelegenheit warten, den Grenzzaun nach Spanien zu überwinden. Den Credits ist zu entnehmen, dass der Film von mehreren europäischen und marokkanischen NGOs ermöglicht wurde. Er endet mit der Widmung an Clémente aus Kamerun, dessen Tod in den marokkanischen Bergen der Film bezeugt.

Die Männer erzählen ihre Geschichten, vom Aufbruch, von ihren Plänen, von ihren gelernten Berufen, von den Versuchen, den Zaun zu überwinden. Sie zeigen ihre Verletzungen – und bitten um Hilfe. Die verzweifelten Blicke und Geschichten werden von einer bedrängend melancholischen Musik untermalt. Man könnte diesem Film vorwerfen, dass er die Männer als Opfer zeigt und dieses durch die Musik und die Bildregie noch verstärkt, dass er damit in den gängigen Konventionen verhaftet bleibt, durch die die marginalisierten Subjekte der Handlung in ihrer Opferrolle festgezurrt werden.

Allerdings müsste man sich dann der Frage stellen, inwieweit diese – auch schon zur Konvention gewordene – Figur von Kritik nicht angesichts der hier gezeigten Realität ihre Berechtigung verliert. Es ist möglicherweise interessanter, davon auszugehen, dass dieser Film ganz bewusst im Register dessen, was wir zu sehen gewohnt sind, agiert und eben auf eine Konfrontation aus ist: Was kann uns deutlicher auf unsere hegemoniale Perspektive hinweisen als diese Verschränkung von Realität und Drama? Kann dieser Film uns in unserer sicheren Distanz bestätigen oder gelingt es ihm, uns nachhaltig zu verstören?

Eine Schlussbemerkung zu diesem Filmbeispiel: Beim Vortrag im Rahmen der metroZones-Schule saß ein Zuhörer, der in eben diesem Film einen Freund entdeckte, von dem er jahrelang nichts mehr gehört hatte.


Langfassung des Vortrags von Maren Grimm mit mehreren Filmbeispielen: Sichtbarkeit? Mediale Erzählungen von Refugee-Bewegungen