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SCHULE FÜR STÄDTISCHES HANDELN

Gezipark.nadir.org

GEZI-PARK ÜBERSETZEN

Gezipark.nadir.org war eine Website, auf der während der Protestbewegungen um den Instanbuler Gezi-Park 2013 alle Meldungen Über die Proteste mit Orts- und Zeitstempel in Deutsch und Englisch (später auch in anderen Sprachen) abgebildet wurden. Dahinter stand ein Kollektiv von Amateur-Übersetzer*innen, das Tweets und Ticker-Meldungen nach verifizierten Informationen filterte, sortierte und in verschiedene Sprachen übersetzte.

Dabei verbrachten viele der Aktivist*innen zwei Wochen lang rund um die Uhr vor den Computern und tauschten sich zudem permanent darüber aus, wie die gemeinsame Arbeit noch besser organisiert werden könnte. So entstand nach und nach eine immer stabilere Infrastruktur – und bald standen nahezu in Echtzeit Informationen in vielen verschiedenen Sprachen zur Verfügung, die dann weltweit rezipiert wurden.

Wie alles begann …

Initiiert wurde das Projekt von einem Freundeskreis in Dortmund, der zu großen Teilen aus internetaffinen und politikinteressierten Menschen besteht. Sie alle waren im Alltag via Chat miteinander in Verbindung und verfolgten Social Media, in erster Linie Twitter, aber auch andere Nachrichtenportale oder Facebook. Für die politische Arbeit nutzten sie bereits seit längerem EtherPads. EtherPad ist ein webbasierter Editor, der zur kollaborativen Bearbeitung von Texten genutzt wird und kollektives Schreiben und den gleichzeitigen Austausch darüber erlaubt.

Eine der Initiator*innen erinnert sich: »Wir hängen ja eh viel im Netz, und zu der Zeit hatte ich weniger Arbeit, also zufällig auch mehr Zeit. Damals gingen in Istanbul langsam die Proteste los, Aktionen wie Parkbesetzung, ziviler Ungehorsam, dann kam es zur gewaltsamen Räumung des kleinen Protestcamps.« Über verschiedene Dienste von Twitter haben sie und ihr Freund vermehrt nach wichtigen Hashtags gesucht und dabei festgestellt, dass die türkischen Tweets deutlich schneller waren und oft von Augenzeug*innen bzw. von einer um Verifizierung bemühten Tickerredaktion (sendika.org) stammten.

Da ihr Partner nicht ausreichend Türkisch sprach, übersetzte sie die türkischen Tweets und beide fingen an, die wichtigsten Entwicklungen auf Deutsch und Englisch zu twittern oder kommentiert zu retweeten. Als sie merkten, dass das Interesse an türkischsprachigen Informationen wuchs, beschlossen sie, das Projekt größer aufzuziehen. In dem Freundeskreis begannen sie türkische Tweets und Tickermeldungen im EtherPad gemeinsam ins Deutsche und Englische zu übersetzen und über einen speziellen Twitter-Account und später dann auch über gezipark.nadir.org zu verbreiten. Dabei wurde sendika.org zur Hauptquelle, da diese über ein ganzes Netzwerk von Berichterstatter*innen im ganzen Land verfügte, die verifizierte Informationen, oft auch mit Bildern versehen, lieferten.

Das Projekt wuchs

Als die Proteste sich immer stärker ausweiteten und vergrößerten, konnte das kleine Team die Masse an Informationen nicht mehr bewältigen, und so wurde entschieden, den Kreis auszuweiten. Dazu richtete sich das Projekt mit einem Aufruf an freiwillige Übersetzer*innen an die Twitter-Öffentlichkeit. Nach kurzer Absprache wurden alle Freiwilligen eingeladen, an dem Übersetzungpad mitzuwirken. Das Interesse war derart überwältigend, dass bald nicht nur auf Deutsch und Englisch, sondern auch auf Griechisch, Italienisch, Polnisch, Niederländisch, Französisch, Portugiesisch, Arabisch und Mazedonisch übersetzt wurde.

Um transnational arbeiten zu können, gab es grundlegende Informationen für alle: Wie funktioniert das Pad? Woher kommen die Informationen? Wie werden diese aufbereitet (Zeitstempel, Ort)? Wie verständigt man sich als Gruppe? Wichtig für die Verständigung war dabei der Chat im Pad, in dem jede*r mit Nickname und den jeweiligen Sprachen, die sie oder er übersetzen konnte, gekennzeichnet war. Man tauschte sich auch darüber aus, wie die Übersetzungsarbeit fÜr alle so transparent wie möglich gestaltet werden könnte und wie manche Meldungen zu deuten seien. Zudem gab es im Pad-Chat auch Hilfestellungen, wie beispielsweise Listen von Parteien oder Organisationen, die für viele nicht so schnell einzuordnen waren.

Auch Glossare wurden erstellt, wie bestimmte Idiome, Begriffe und politische Formulierungen und ihre deutschen oder englischen Entsprechungen. Später konnten auch Bilder hochgeladen werden und ein neu geschriebenes Miniskript ermöglichte es, durch die Setzung eines X eine ganze Meldung aus dem Pad direkt auf die nadir.org-Seite zu schicken, womit sich die mühselige Kopierarbeit erübrigte. Durch ihre Größe von nur wenigen Kilobyte war die Seite zudem hervorragend für mobiles Abrufen geeignet. Hinzu kam, dass bei Gezipark.nadir.org die Abrufe – im Gegensatz zu Seiten wie Facebook – nicht nach individuellem Surfverhalten analysiert wurden. Die Server von nadir.org sind so konfiguriert, dass IP-Adressen zum frühestmöglichen Zeitpunkt verworfen werden. So konnten sich Protestinteressierte informieren, ohne gleich in einer Datenbank aufzutauchen.

Was bleibt?

Viele aus der Übersetzungsgruppe hatten vor, die Initiative in ein dauerhaftes Projekt zu überführen. Wegen der besonderen Umstände und des enormen Zeitaufwands wurde jedoch schnell klar, dass es in dieser Form einmalig bleiben würde. Für viele, die am Projekt beteiligt waren oder es mit Interesse verfolgt haben, bleibt jedoch das enorm gestiegene Interesse an den politischen Zuständen in der Türkei. Für die Beteiligten war es eine intensive Erfahrung transnationaler und solidarischer Zusammenarbeit. Abrufzahlen von 6 Millionen Abrufen pro Tag bzw. 70 in der Sekunde zeugten davon, dass da tatsächlich etwas bewirkt wurde: Es entstand so etwas wie ein kollektives Gezi-Gefühl – in und aus der Ferne.