Sichtbarkeit?? Mediale Erzählungen von Refugee-Bewegungen
Wie haben sich im Zeitalter des Smartphones, also der ständig verfügbaren HD-Kamera, die Autor*innen der Erzählungen von Flucht und Ankommen und damit auch die Erzählungen selbst verändert? Wie verändern sich journalistische und filmische Plots durch die Ereignisse und durch andere Autorenschaften? Was bedeutet es, dass eine mediale journalistische Vermittlung dadurch – zumindest zum Teil – entfällt? Welche Rolle spielen die Geräte selber, die Kameras, die Kommunikation über soziale Medien und die damit verbundenen Möglichkeiten der unmittelbaren Übertragung? Und was heißt es, dass wir vermehrt auf diese Bilder zugreifen können und sich der Zugang zu Information damit verändert? Was heißt es, dass diese Bilder – und auch viele der Menschen, die diese Bilder auf ihren Wegen nach Europa gemacht haben – jetzt hier sind? Bei der Sichtung des Materials wird deutlich, dass es um die Visualisierung einer permanenten Krise geht. Es gibt darin zwar immer auch Momente der Ermächtigung, einer aktivistischen Aneignung und eine Verschiebung von Handlungsfähigkeiten durch die direkte, unvermittelte Übertragung von Ereignissen durch die Akteur*innen selbst. Zugleich sind diese Bilder eingebettet in eine Debatte darum, wer überhaupt eine Stimme hat und sichtbar und hörbar wird. Welche Bilder werden wie und warum hegemonial und wie werden „unsere“ ästhetischen und letztlich auch ethischen Vorstellungen mittels bestimmter Stereotype hergestellt?
Bilder von Krieg, Flucht und Ankommen sind immer auch Teil eines Kampfes darum, wie die Subjekte dieser Bilder von Opfern zu handlungsfähigen Menschen werden. Das heißt in erster Linie, dass „wir“ (als Vertreter*innen einer Mehrheitsgesellschaft in Europa) uns von Vorstellungen und Sehgewohnheiten befreien müssen und unsere Perspektive sich möglicherweise verschiebt. Nicht nur im Sinne des Erkennens der „Anderen“ und der Überwindung des othering, sondern auch im Sinne der Anerkennung der eigenen Involviertheit. Für ihren Vortrag beim metroZones-Camp am 16. September 2016 hat Maren Grimm einen Korpus von Videos und Filmen zusammengestellt und kommentiert, die beispielhaft für diesen Aushandlungsprozess um Sichtbarwerdung von Refugees stehen.
Die folgenden Clips sind in Griechenland im Mai 2016 entstanden und beide Kanäle haben fast denselben Namen. Das erste Beispiel ist von refugee.tv – the other perspective, einer deutsch-österreichischen Plattform. Diese beschreibt sich so:
„refugee.tv steht für einen Akt der Selbstermächtigung. Es ist die Vision eines TV-Senders, der von Flüchtlingen gestaltet wird, in Zusammenarbeit mit einem deutsch-österreichischen Filmteam. Die Reporter von refugee.tv sind als Flüchtlinge nach Europa gekommen. Unter ihnen sind Filmemacher\*innen, Journalist\*innen und Kameraleute. Viele von ihnen mussten fliehen, weil sie die Missstände in ihrer Heimat öffentlich gemacht haben. refugee.tv bietet diesen ReporterInnen eine Plattform, um ihre leidenschaftliche Arbeit fortsetzen zu können.“ (http://refugee.tv/uber-uns/)
Zu Beginn des Clips berichtet Arman Niamat Ullah, der selbst bereits 2013 nach Deutschland geflohen war und mittlerweile als Filmemacher arbeitet, dass er für dieses Video das erste Mal nach Griechenland – und damit an Stationen seiner eigenen Fluchtroute – zurückgekehrt ist, um von dort zu berichten. Er zeigt die Orte des Transits, die improvisierten Durchgangslager an den Fähren, die Camps und interviewt die Menschen. Wir sehen: eine junge Familie aus Afghanistan mit einem kranken Säugling; einen älteren Mann, der über seine Kriegsmüdigkeit spricht und anklagt, dass der Westen Waffen und vieles mehr in sein Land liefert und von diesen Geschäften profitiert, während die Industrie in Afghanistan nicht einmal mehr ein Fahrrad herzustellen in der Lage ist; ein kleines Mädchen, das sich vor der Kamera an die Zeit vor der Flucht, an ihre Schule erinnert und unvermittelt zu weinen beginnt.
Das zweite Beispiel ist Refugees.TV. Darunter findet sich auf Facebook eine gleichnamige „Fernsehsendung“, deren Markenzeichen die Kamera aus einem klobigen Holzstück mit einem abgeschnittenen Stück PET-Flasche als Objektiv ist, versehen mit einem Aufkleber des „Senders“ auf Englisch und Arabisch. Die drei jungen Araber, aus denen das Team besteht, produzieren mit Regugees.TV auf humorvolle Weise Reportagen aus dem Alltag im Camp, die immer auch den Verweis auf die Abwesenheit oder das Desinteresse der „echten“ Filmteams miterzählen. Die Persiflage aber geht darüber hinaus: Im ausgewählten Beispiel „berichten“ sie von einer im Camp initiierten UN-Sitzung, die Geflüchtete in genau die Länder zurückweist, aus denen sie geflohen sind – einer Uninvited-Nations-Sitzung.
„We try to make people smile. We mix comedy with reality. We brought a table, then some blankets to build the office, then we brought a very big board and wrote: UN – no help and no information. We did an asylum program for people who want to register. We were going to choose a country for them. We chose the war countries: Syria, Iraque and Palestine, because they die here every day. In these countries they would die very fast, in one day only. So we wouldn’t be a waste of time for them. A lot of people registered in our office.“ (http://voiceproject.org/campaign/refugees-tv/)
Ein großer Teil der Informationen über die Fluchtrouten nach Europa und durch Europa erreichte uns zunächst durch die Medienarbeit von Aktivist*innen, unabhängigen Journalist*innen und nicht zuletzt der Geflüchteten selbst. Zumindest zeitweise war diese Berichterstattung – hauptsächlich über die sozialen Netzwerke im Internet – der Fernsehberichterstattung voraus und konnte diese bis zu einem gewissen Grad sogar beeinflussen, indem sie die Aufmerksamkeit auf bestimmte Orte und Ereignisse lenkte. Signifikant für beide Beispiele ist, dass sie sich mit großer Souveränität die „professionellen“ Formate aneignen und sie reproduzieren – sei es auch im zweiten Fall mit bitterem Sarkasmus.
Ende 2015 erschien „My Escape/Meine Flucht“ von Elke Sasse, produziert vom WDR. Der Film besteht aus einer Montage von Handyvideos, die von Geflüchteten aus Afghanistan, Eritrea, Syrien und Irak auf ihren verschiedenen Fluchtrouten gefilmt wurden und die von ihnen selbst im Nachhinein kommentiert werden. Die Produzenten hatten in den sozialen Netzwerken einen Aufruf zur Teilnahme an dem Filmprojekt gestartet und aus den Einsendungen die späteren Protagonist*innen ausgewählt. In ihren Erzählungen vermischen sich Erläuterungen zu den Bildern mit Erinnerungen an die „Reise“ und Reflektionen über die Gegenwart.
Viele der Protagonist*innen des WDR-Films sind junge Menschen, die die Übertragung ihres Alltags in die sozialen Netzwerke auch auf den Fluchtrouten nicht unterbrechen. Das Smartphone als Verbindung zur Welt, zu Familie und Freunden ist für jüngere Generationen ohnehin eine Selbstverständlichkeit. Aus ihren Erzählungen und den auf der Flucht gedrehten Videos geht aber auch hervor, dass die Dokumentation der Fluchtroute mehrere Funktionen hat bzw. verschiedene Intentionen nahelegt. Ein Zeugnis anzufertigen über den Weg, der vor einem liegt, spielt dabei sicher eine zentrale Rolle.
In Sasses Film entfalten diese Bilder von tagelangen Fußmärschen durch die Wüste, von Transporten in überladenen offenen LKWs, aus informellen Reiseagenturen an der türkischen Adriaküste, vom letzten Falafel vor der Überfahrt und immer wieder vom Warten, vom Überschlagen der verbliebenen Barschaft, von Ungewissheiten gerade im Zusammenspiel mit den nachträglich geführten Interviews ihre eindringliche Wirkung.
Oft ist das Material heimlich gedreht, beeindruckend sind etwa die Bilder aus den „Reisebüros“, den unablässig ratternden Geldzählmaschinen, den Schlangen von Reisewilligen mit gezückten Geldbündeln. Dazu erzählt der Protagonist und Filmende, dass hier oftmals Millionen Euro pro Tag umgesetzt werden. Er ist aus Syrien aufgebrochen und über die türkische Westküste und die griechischen Inseln bis nach Nordeuropa gekommen. Nach dem Kauf der „Fahrkarte“ begeben sich die „Reisenden“ zu Sammelplätzen, wo sich die Flüchtenden mit ihren Habseligkeiten versammeln. Mit Schwimmwesten und Deckenstapeln warten sie an den „informellen“ Transitstationen. Danach werden sie in einer stundenlangen Fahrt in einem geschlossenen Transporter zum Abfahrtsort der Boote gebracht. In dem Moment, in dem der Protagonist das vom ihm während dieser Fahrt im Nightshot-Modus gedrehte Material noch einmal sieht, stellt er den Bezug zu dem an einer österreichischen Autobahn abgestellten Klein-LKW mit den Leichen von 78 Geflüchteten her, die in dem geschlossenen Fahrzeug erstickt waren. Die Bilder, die zu sehen sind, sind demnach immer auch – und das läuft subtil die ganze Zeit mit – Aufzeichnungen, die im Falle des Todes auf der Flucht ein Zeugnis oder auch eine Warnung für die Familien, Freunde und die, die den Weg noch gehen werden, würden. Sie könnten also auch die letzten Bilder und Lebenszeichen von dieser Person sein. In diesem Fall sind sie nun Zeugnisse des Überlebens.
Dieses authentische Material ist stark, gerade wenn die Protagonist*innen in den dazwischengeschnittenen Interviews ihre eigenen Bilder kommentieren. Der Film wird in der Gesamtschau zu einem Stück kollektivem investigativen Journalismus. Er zeichnet ein Bild von den Abläufen entlang der Fluchtrouten, welches die Anhäufung von Unterlassungen der Staatengemeinschaft noch einmal skandalöser erscheinen lässt und führt die medialen Vereinfachungen, wie zum Beispiel in den Diskursen über die „kriminellen Schlepperbanden“, ad absurdum.
Um die Rolle von Smartphones als wichtigstem Kommunikations- und Orientierungstool in der „Flüchtlingskrise“ geht es in dem Clip „Your phone is now a refugee’s phone (watch on a mobile)“ der BBC media action-Redaktion von 2016.
Der dreiminütige Film spielt exemplarisch die verschiedenen Funktionen des Smartphones durch: Kontakt zu Freund*innen und Familie halten, sich mittels Kompass orientieren, anhand von GPS-Koordinaten herausfinden, wo man selbst oder andere sich befinden, Informationen über mögliche Routen kommunizieren. Er zeigt zudem den permanent prekären Status, wenn das Guthaben alle ist oder die Sim-Karte nach einem Grenzübertritt nicht mehr funktioniert, bis hin zum Verlust des Geräts, sei es durch Wasserschäden auf der Überfahrt, Zerstörung in Kampfhandlungen oder weil keine Auflademöglichkeit zu finden ist und die Batterie leer ist.
Dass Videobotschaften und alte SMS-Nachrichten oder ein Foto auf einem Handybildschirm manchmal das Letzte sind, was von einem Menschen bleibt, zeigt der Film „From Aleppo to Goslar“ von Marcel Mettelsiefen von 2013, eine Arte-Produktion, die auf Youtube zu finden ist.
Ab Minute 29.45 sehen wir einer Frau namens Hala Kasmou aus Aleppo zu, die mittlerweile mit ihren Kindern in Goslar lebt. Ihr Mann Abu Ali war Kommandant der Freien Syrischen Armee und wurde vom IS verschleppt. Seitdem gibt es von ihm kein Lebenszeichen. Hala Kasmou entschied sich, ihre Kinder in Deutschland in Sicherheit zu bringen. In Goslar trinkt sie weiter jeden Morgen mit ihrem Mann Kaffee, wie sie es in den 21 Jahren ihrer Ehe jeden Morgen gemacht haben – er ist da als Foto auf ihrem Mobiltelefon –, und manchmal spricht sie mit ihm. Während sie vor den zwei Kaffeetassen sitzt, erzählt sie, dass dieses Stück Metall, dieses Telefon, jetzt ihre ganze Welt ist. Ihre Familie, ihr Land, ihre Erinnerung.
Rabih Mroué ist ein schon länger in Berlin lebender libanesischer Künstler und Regisseur, der in seinen Arbeiten fiktive Elemente und Dokumente verbindet. Eine seiner Arbeiten steht geradezu emblematisch für die Diskurse um Mobiltelefone als nützliches und manchmal überlebensnotwendiges Gerät, aber auch als Vehikel der Entfremdung und Werkzeug des Voyeurismus.
Rabih Mroué fordert die Zuschauer*innen heraus:
„The Pixelated Revolution – a non-academic lecture“ geht der Überlegung nach, wie unsere Gier nach Spektakulärem und der Hang zum Voyeurismus für die Person mit der Kamera womöglich tödlich enden können. Er nimmt ein Video zum Ausgangspunkt: Zu Beginn fällt ein Schuss. Zu sehen ist, wie eine Handykamera nervös ein gegenüber liegendes Gebäude abfilmt, anscheinend auf der Suche nach dem Schützen. Das Kameraauge findet diesen schließlich am Fuß des Gebäudes, im Halbschatten unter dem ersten Balkon, ein Moment des gegenseitigen Erkennens, der Sniper legt an, schießt. Das Kameraauge fällt und bleibt mit der Linse an die Decke des Raumes gerichtet unbewegt liegen. Eine Stimme ruft auf Arabisch: „Ich bin verwundet, ich bin verwundet.“ Aus. Double Shooting. Mroué interessiert sich für die Beziehung der beiden „Schützen“, Gewehr und Kameraauge, den Moment des gegenseitigen Erkennens.
Ausgehend von der Frage, weshalb die filmende Person sich angesichts des Heckenschützen nicht umgehend in Sicherheit bringt, sondern ihn fokussiert, denkt er über die Menschen nach, die in Damaskus und Aleppo seit Jahren im Krieg leben. Sie filmen mit ihren Mobiltelefonen den alltäglichen Krieg, das Handy wird fast zu einem integrierten Körperteil. Zudem geht Mroué davon aus, dass es sich bei der filmenden Person um einen Gegner des Regimes handeln muss, da das syrische Fernsehen exzessiv Stative benutzt; seine Gegner hingegen seien prekärer unterwegs, immer auf der Hut vor Übergriffen, und hätten nicht die Zeit, eine Kamera auf ein Stativ zu stellen. Damit geht es auch um die Frage, wie „objektive“ Berichterstattung aus dem syrischen Krieg überhaupt möglich sein kann. Diese Frage beschäftigt nicht zuletzt auch die Fernsehsender, die seit der sogenannten „Arabellion“ vermehrt auf unabhängiges Material aus dem Internet zugreifen. Beispielweise hat die ARD hierzu 2011 das „Content Center“ gegründet, eine Stelle, die das Internet auf vertrauenswürdige Quellen aus Gebieten, aus denen keine eigene Berichterstattung möglich ist, durchsucht und überprüft.
Thema ist hier also wiederum das Bild als Dokument und Zeugnis: Was ist an diesen Bildern authentisch (oder nicht)? Rabih Mroués Plädoyer lautet, dass wir angesichts der „Bilderflut“ mehr und mehr verlernen, Bilder zu lesen und an ihnen zu identifizieren, wie Machtverhältnisse in Bildern reproduziert oder in Frage gestellt werden – und dabei letztlich Realität und Fiktion nicht mehr auseinanderhalten.
Der französische Film „This is a Real Story – No.9“ untermauert seinen Anspruch, „authentisch“ zu sein, nicht nur bereits im Titel, sondern auch mit allem, was die Dokumentarfilmkonventionen zu bieten haben. Wir sind in Marokko, zeigt uns der Film, zunächst mit einem Blick in die kultivierte, blühende Agrarlandschaft. Er handelt von den Gruppen junger Subsahara-Afrikaner, die zum Teil monate- oder auch jahrelang in notdürftigsten Camps oberhalb der spanischen Enklave Melilla leben und als prekäre Tagelöhner versuchen, Geld für die Überfahrt zusammenzukriegen, oder auf eine Gelegenheit warten, den Grenzzaun nach Spanien zu überwinden. Den Credits ist zu entnehmen, dass der Film von mehreren europäischen und marokkanischen NGOs ermöglicht wurde. Er endet mit der Widmung an Clémente aus Kamerun, dessen Tod in den marokkanischen Bergen der Film bezeugt. Die Männer erzählen ihre Geschichten, vom Aufbruch, von ihren Plänen, von ihren gelernten Berufen, von den Versuchen, den Zaun zu überwinden. Sie zeigen ihre Verletzungen und bitten um Hilfe. Die verzweifelten Blicke und Geschichten werden von einer bedrängend melancholischen Musik untermalt. Man könnte diesem Film vorwerfen, dass er die Männer als Opfer zeigt und dieses durch die Musik und die Bildregie noch verstärkt, dass er damit in den gängigen Konventionen verhaftet bleibt, durch die die marginalisierten Subjekte der Handlung umso fester in ihrer Opferrolle festgezurrt werden. Allerdings müsste man sich dann der Frage stellen, inwieweit diese – auch schon zur Konvention gewordene – Figur von Kritik nicht angesichts der hier gezeigten Realität ihre Berechtigung verliert. Es ist möglicherweise interessanter, davon auszugehen, dass dieser Film ganz bewusst im Register dessen, was wir zu sehen gewohnt sind, agiert und eben auf eine Konfrontation aus ist: Was kann uns noch deutlicher auf unsere hegemoniale Perspektive hinweisen als diese Verschränkung von Realität und Drama? Kann dieser Film uns in unserer sicheren Distanz bestätigen oder gelingt es ihm, uns nachhaltig zu verstören?
Eine Schlussbemerkung zu diesem Filmbeispiel: Beim Vortrag im Rahmen der metroZones-Schule saß ein Zuhörer, der in eben diesem Film einen Freund entdeckte, von dem er jahrelang nichts gehört hatte.
Angesichts der derzeitigen Krise, die entweder als sogenannte „Flüchtlingskrise“ bezeichnet oder als eine Krise der europäischen Werte beschrieben wird, sollten wir auch von einer Krise unseres Verständnisses von Menschenrechten sprechen – und dazu gehört ein ästhetisches Verständnis. Wen begreifen wir als Teil einer Wertegemeinschaft, wer sind die anderen, wer hat die Handlungsmacht und wer nicht? Welche Darstellungsformen hat das hervorgebracht? Und gibt es überhaupt noch Möglichkeiten der Subversion (in der Postmoderne)?
Tom Holert schreibt in seinem Artikel „Das Überleben der Anderen – zur Repräsentation von Flüchtlingen und Migrant*innen im aktuellen Dokumentarfilm“ von 2007, dass „die Ästhetik der Menschenrechte auf Engste verbunden ist mit einer Vorstellung vom Opfer, konstruiert aus der Perspektive eines Subjekts souveräner Verfügungsmacht“. Diese Feststellung ist auch zehn Jahre später weiterhin gültig: Die „Menschenrechtskultur“ in Europa beruht auf einem lokalen Verständnis von Kultur und re/produziert (notwendigerweise) weiterhin Ausschlüsse. Das Bröckeln dieses lange als selbstverständlich vorausgesetzten „abendländischen“ Wertesystems und der zu beobachtende Rückgriff auf nationale Identitäten ist zwar manifest, aber wiederum zunächst ein Symptom der Krise. Es muss also darum gehen, die oben genannte postulierte „Krise der europäischen Werte“ als eine Möglichkeit zu ergreifen, zu einem neuen Verständnis von Menschenrecht und Gemeinsinn zu finden.
Epilog: Der Film „Napps – Memoire of an invisible Man“ von Mr. X und Tami Liebermann ist 2014 in Berlin entstanden.
Eine Szene: Die Kamera betritt ein Internet-Café in Berlin. Mr. X erzählt aus dem Off, wie er, gerade in Berlin angekommen, ein Internet-Café besuchte und dort von einem Eingeborenen gefragt wurde, ob er Drogen zu verkaufen habe. Er verneinte und im anschließenden Gespräch wies ihm der Eingeborene dann den Weg in einen Berliner Park, wo der neu Angekommene Landsleute treffen könne. Mr. X, ein schwarzer afrikanischer Mann, ist der Protagonist des Films. Er bleibt die ganze Zeit unsichtbar. Vordergründig geschieht das, weil er sich gefährden würde, wenn er seine Identität preisgäbe. Die Filmemacherin, die ihn ursprünglich in einem Berliner Park angesprochen hatte, wird zur Darstellerin, zum Gegenüber der Blicke und Mr. X übernimmt die Kamera.
Gleichzeitig aber passiert in dieser Umkehrung der Blicke noch etwas anderes. In einer Szene unterschreibt Mr. X sein Einverständnis, alle Rechte am Film abzutreten. In diesem Akt, der nicht nur ein symbolischer ist, richtet er seinen Blick auf uns, auf das, was ihm von uns aus entgegentritt. Das wäre – im Sinne der Verschiebung von Blicken – ein Schritt in eine notwendige reflexive Phase: Der Autor tritt aus dem Bild heraus und eröffnet dadurch einen Raum, in dem wir uns selbst erkennen könnten.
Kurzform dieses Vortrags von Maren Grimm aus der Printversion des Schoolbook: Sichtbarkeit? Mediale Erzählungen von Refugee-Bewegungen