ZUR ÜBERSETZUNG VON SOLIDARITÄT UND DER SOLIDARITÄT DER ÜBERSETZUNG
»Die Dolmetscher*innen, die während der Asylverfahren im Einsatz sind, müssen alle durch neue ersetzt werden. Sie arbeiten hier seit sehr langer Zeit, machen Witze über Betroffene. Sie übersetzen teilweise absichtlich falsch – dies hat negative Auswirkungen auf die Gerichtsverfahren sowie die Interviews mit Behördenvertreter*innen.« 1
Dies war die erste Forderung des Refugee Protest Camp Vienna, das 2012 als selbstorganisierter Refugee-Protest gegründet wurde und etwa ein Jahr lang politisch aktiv war. Diese Forderung verweist auf die zentrale praktische Relevanz, die Übersetzungen für Asylverfahren haben. Doch die Bedeutung von Übersetzung für Geflüchtete wie auch Migrant*innen geht weit über die Frage des Dolmetschens hinaus. Von Geflüchteten wird erwartet, dass sie ihre Erfahrungen in Gesetzesparagrafen übersetzen und ihre Lebensvorstellungen in Bekenntnisse von Integrationswilligkeit. Sie müssen die Sprache des Souveräns lernen; alles, was in dieser Sprache nicht gesagt werden kann, bleibt ungehört: Übersetzung als Zwang.
Doch die Übersetzung lässt sich auch gegen ein repressives System wenden. Individuelle Schicksale lassen sich in die Sprache der Menschenrechte übersetzen und damit universalisieren. »Wir fordern unsere Rechte«, lautet eine zentrale Losung vieler Refugee-Proteste – und dem ist von staatlicher Seite schwer etwas entgegenzusetzen, was deren Rhetorik nicht entlarvt: Übersetzung als Selbstermächtigung.
Über Universalisierung kann Solidarität geschaffen werden, im Sinne des etymologischen Ursprungs des Wortes im römischen Recht: »eine Verpflichtung fürs Ganze, die Gesamthaftung, die Gesamtschuld, die Solidarobligation. Einer für alle, alle für einen. Alle stehen für den, der seine Schuld nicht zahlen kann, ein, und der ist im umgekehrten Fall bei allen anderen in der Pflicht.« 2 Oder auch im Sinne des sozialistischen Verständnisses dieses Begriffs, als Grundlage, Methode und Ergebnis des gemeinsamen politischen Kampfes.
Darum geht es auch in gemeinsamen Protestbewegungen von Refugees, Migrant*innen und Menschen mit stabilem Aufenthaltsstatus. Um den gemeinsamen Kampf für eine Gesellschaft, in der es uns allen besser geht. Um eine Übersetzung des sozialistischen Begriffs des Klassenkampfs in zeitgenössische politische Kämpfe. Es sind Kämpfe, für die Klassenunterschiede nach wie vor eine zentrale Rolle spielen, häufig in einer rassifizierten Form, die eng an Bürger*innenrechte bzw. deren Fehlen geknüpft ist. Es geht um eine Übersetzung und damit Überschreitung eines reduzierten Verständnisses von Solidarität, das sich nur auf diejenigen bezieht, die der gleichen Nationalität angehören. Alle, die hier sind, sind auch von hier. Um eine Übersetzung und Übertragung des christlichen Verständnisses von Solidarität, die den universalen Charakter dieses Zugangs aufnimmt und seine paternalistischen Züge zurückweist.
Dies ist nicht einfach, wenn es um den gemeinsamen Kampf von Menschen mit radikal unterschiedlichen Privilegien und Risiken geht. Wenn die einen um ihr Leben kämpfen und die anderen für eine Utopie. Wenn die einen ohne die Unterstützung der anderen nicht auskommen, während die anderen frei entscheiden können, ob sie diese Unterstützung leisten wollen oder nicht. Paternalismus und Ausschluss sind unvermeidliche Begleiterscheinungen einer solchen Situation und müssen kontinuierlich und stets konkret bearbeitet werden: Übersetzung von Solidarität als ständige Verhandlung von Positionen und Interessen.
Übersetzung von Solidarität und Solidarität in der Übersetzung als Notwendigkeit – und als Chance. Denn Refugeebewegungen berühren die wichtigsten politischen Probleme unserer Zeit. Und diese Bewegungen bauen auf Solidarität auf und produzieren diese zugleich. Eine Solidarität, die sich als kontinuierlicher Prozess der Übersetzung versteht – vom Universellen ins Konkrete und umgekehrt, von Erfahrungen in politisches Handeln, von alten Abgrenzungen in die Produktion neuer Zusammenhänge gemeinsamen Begehrens.